Solidarität contra Staatsräson

Veröffentlich am 25.02.2024

Repression gegen Palästinasolidarität in Berlin

Dieser Beitrag wird von einer Mehrheit der Ortsgruppe Berlin unterstützt und stellt den Versuch einer Analyse der verstärkten Repression gegen die palästinasolidarische Bewegung in Deutschland dar. Als strömungsübergreifende Organisation haben wir intern teilweise stark widersprüchliche Positionen, sehen diese Analyse aber nicht ausreichend dargestellt.

Das Jahr 2023 brachte für die Berliner palästinasolidarische Bewegung massive Repression und endete passend dazu – mit einem Demoverbot. Die Demonstration mit dem Titel „No celebration in genocide – Kein Feiern bei Genozid!“ durch den Bezirk Neukölln wurde untersagt. Seit spätestens 2022 verstärkt sich die vielschichtige Ausgrenzung und Unterdrückung palästinensischer und palästinasolidarischer Stimmen. Diese politische Repression ist Folge der zur Staatsräson erklärten bedingungslosen Solidarität mit Israel: Kritik am Agieren des israelischen Staates wird nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 auf allen Ebenen Steine in den Weg gelegt.

Die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson

„Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 in ihrer bekannten Rede vor der Knesset. Sie baute dabei auf der schon unter Konrad Adenauer begründeten Tradition auf, Israel als „Bollwerk des Westens“ zu unterstützen.

2017 beschloss die Bundesregierung die umstrittene Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remeberance Alliance (IHRA) „politisch zu indossieren“. Die Definition soll laut ihren Autor:innen dem Monitoring von Antisemitismus durch europäische Stellen dienen. Ihre politische Instrumentalisierung wird zum Beispiel in einem viel beachteten Beitrag auf dem „Verfassungsblog“ kritisiert: Sie sei nicht für einen rechtsverbindlichen Gebrauch geeignet. Außerdem könne sie herangezogen werden, um jede Kritik am Handeln Israels pauschal als antisemitisch zu werten – was die Praxiserfahrung bestätigt. Unter anderem deshalb wird von zahlreichen Antisemitismusforscher:innen die enger gefasste Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus als Alternative vertreten. Einen wichtigen Meilenstein zur politischen Umsetzung der IHRA-Definition stellte die Resolution des Bundestages vom 17.05.2019 gegen die Boycott, Divestment, Sanctions (BDS)-Bewegung dar. Mit Bezug auf die Resolution mit dem Titel „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ versagen seitdem regelmäßig Kommunen die Nutzung ihrer Räume für Veranstaltungen, in denen die israelische Besatzungspolitik kritisiert werden soll.

Wie hierzulande Kritik an der israelischen Politik pauschal als antisemitisch gebrandmarkt wird, ist Folge einer Verstaatlichung und Nutzbarmachung der Erinnerung an den Holocaust. Die „jewish currents“, ein linkes, jüdisches Magazin aus den USA, beschreiben in einem Text zur deutschen Erinnerung, dass in den 80er Jahren die Erinnerungsarbeit vor allem von antifaschistischen Initiativen gegen den Staat getragen worden sei, nach der Wende allerdings vom Staat übernommen wurde. Diese nationale Hinwendung zu Gedenkstätten und Erinnerung sei nicht uneigennützig geschehen. „Das neue vereinte Deutschland wollte seinen Platz neben den anderen westeuropäischen Nationen finden, und versuchte deswegen in den folgenden zwei Jahrzehnten zu beweisen, dass es ausreichend Abbitte geleistet hatte.“ Konsequenz aus dieser Abbitte sei die Loyalität zu einer bestimmten jüdischen politischen Formation: dem Staat Israel. „Auf die Frage, warum ein deutscher Nationalismus, der letztlich Auschwitz hervorgebracht hat, denn erhaltenswert sei, gibt es jetzt eine befriedigende und historisch symmetrische Antwort: weil er den jüdischen Staat unterstützt.“

Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, dass die Repression gegen palästinasolidarische Veranstaltungen spätestens seit 2022 in Berlin zunimmt. Am 11.05.2022 wurde eine Mahnwache der Jüdischen Stimme für einen Gerechten Frieden im Nahen Osten („Jüdische Stimme“) nach der Ermordung der amerikanisch-palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh durch israelische Soldaten verboten. In den Jahren 2022 und 2023 verbot die Polizei alle Demonstrationen in Erinnerung an die Nakba, die gewaltsame Vertreibung von mindestens 700.000 Palästinenser:innen im Zuge des ersten arabisch-israelischen Krieges 1947/48. Eine am 20.05.2023 von jüdischen Aktivist:innen organisierte Kundgebung auf den Oranienplatz in Kreuzberg wurde gewaltsam aufgelöst. Am 30.09.2023 wurde eine Solidaritätsdemo für den von Ausweisung bedrohten Aktivisten Zaid Abdulnasser und den Hungerstreik des Gefangenen Kayed Fasfous gewaltsam aufgelöst. Kayed Fasfous ist einer von zahlreichen Gefangenen in israelischer Administrativhaft – einer Haft von unbestimmter Dauer, angeordnet aufgrund geheimgehaltener Akten, ohne ordentliches Gerichtsverfahren und effektive Verteidigung, häufig mit Folter verbunden.

Brennpunkt Sonnenallee

Dass der örtliche Schwerpunkt der bundesweiten Repression in Berlin-Neukölln liegt, ist in der Geschichte der palästinensischen Diaspora begründet. Schätzungsweise 45.000 Palästinenser:innen leben in Berlin, sie bilden die größte palästinensische Community in Europa. Die Mehrheit von ihnen kam zwischen 1975 und 1990 wegen des libanesischen Bürgerkriegs über den Umweg DDR nach Westberlin, andere Wege nach Europa stand den zu großen Teilen staatenlosen Palästinenser:innen nicht offen. In Berlin angekommen erhielten die Geflüchteten keinen sicheren Aufenthaltsstatus, da sie keine politisch Verfolgten, sondern „nur“ Kriegsflüchtlinge waren. In den 1980ern war Integration ein Fremdwort, man wollte die Geflüchteten marginalisieren und zur Rückkehr in ihre „Heimatländer“ bewegen. Die CDU stärkte religiös-konservative Kräfte in der Community, die ursprünglich mehrheitlich säkular war. Die Sonnenallee in Neukölln gilt als zentraler Ort der Community, Wut und Trauer über durch Bomben getötete Angehörige finden dort oft ihren Ausdruck.

Für Rassist:innen jeder Parteizugehörigkeit ist der Bezirk Neukölln mit seinem hohen Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte und in prekären Lebenssituationen dagegen Projektionsfläche für wahlweise eine gescheiterte Migrationspolitik, die Islamisierung des Abendlandes oder die Verrohung der Jugend, wo man im Sommer nicht ins Schwimmbad und zu Silvester nicht auf die Straße gehen kann. Dementsprechend verwendet die Berliner Polizei in ihren Verbotsbescheiden gegen palästinasolidarische Versammlungen Klischees von Ausländer:innen, die sich und ihre Emotionen nicht im Griff haben: „Die Versammlungsteilnehmenden werden sich also zum Großteil aus jüngeren Personen der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund, zusammensetzen. Zusätzlich werden sich weitere muslimisch geprägte Personenkreise, vorzugsweise voraussichtlich auch aus der libanesischen, türkischen sowie syrischen Diaspora, an dem Aufzug beteiligen.“ Erfahrungen würden belegen, dass bei dieser Klientel eine deutlich aggressivere Grundstimmung vorherrsche und man gewalttätigem Handeln nicht abgeneigt sei, heißt es.

In diese Lage fiel am 07.10.2023 der Angriff der Hamas und anderer militanter palästinensischer Organisationen auf Israel. 695 israelische Zivilist:innen, 36 von ihnen minderjährig, 373 Mitglieder der israelischen Sicherheitskräfte und 71 Ausländer:innen wurden getötet, 240 Menschen als Geiseln genommen. Dem darauffolgenden Krieg der Israelischen Streitkräfte (IDF) gegen die Hamas unter dem Motto „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und entsprechend handeln wir“ (Verteidigungsminister Yoav Gallant) fielen bis heute (09.01.2024) mindestens 23.210 Palästinenser:innen in Gaza zum Opfer, die Hälfte davon Kinder. Nicht mitgezählt sind die ca. 7.000 Menschen, die unter den Trümmern der zerstörten Häuser begraben liegen und deshalb nicht offiziell für tot erklärt wurden, sowie Todesopfer infolge der kriegsbedingt verschlechterten Lebensverhältnisse. Im Westjordanland wurden seither mindestens 384 Palästinenser:innen von Soldat:innen oder Siedler:innen getötet, mindestens 5.000 wurden seither in Haft genommen, zusätzlich zu den 5.000 bereits vorher einsitzenden.

Das massenhafte Sterben führte auch in Berlin zu Reaktionen. Neben Demonstrationen mit Beteiligung von der Bundesregierung in Solidarität mit Israel und gegen Antisemitismus, gab es zahlreiche Demonstrationen in Solidarität mit Palästina. Letztere wurden Anfang Oktober zunächst pauschal verboten. Am 18.10.2023 bahnte sich die Wut über die Bombardierung Gazas dann den Weg auf die Straße. Auf besagter Sonnenallee kamen hunderte Menschen zusammen. Bilder von Polizist:innen, die aufgestellte Kerzen austraten und Zwölfjährige festnahmen, verbreiteten sich auf sozialen Medien. Die Springerpresse schrieb von einer „Krawallnacht“. Der Kiez wurde für die kommenden Wochen unter Belagerung genommen, dauerhaft stationierte Wasserwerfer und Flutlichtmasten inklusive. Seit Ende Oktober 2023 konnten in Berlin Demonstrationen in Solidarität mit Palästina wieder stattfinden. Die Rückbesinnung auf bestehende Grundrechte ist dabei unmittelbares Ergebnis der infolge der Verbote eskalierten Militanz, die auf Dauer der polizeilichen Kontrolle zu entgleiten drohte. Den gelaufenen Demonstrationen kann man hingegen kaum Militanz vorwerfen, meist endeten die Polizeiberichte mit dem Verweis, es habe „keine Vorkommnisse“ gegeben.

„From the river to the sea“

Wobei zu den „Vorkommnissen“ bereits das Rufen von Parolen zählt, namentlich der Parole „From the river to the sea, palestine will be free“. Menschen, die diese Parole verwenden wird eliminatorischer Antisemitismus unterstellt, da sie bedeute, den Staat Israel auszulöschen. Kriminalisierungsversuche vor dem 07.10.2023 scheiterten jedoch. Das Berliner Verwaltungsgericht entschied etwa im August 2023 die Parole sei „für sich genommen nicht antisemitisch“ und weise „auch keinen Bezug zum Völkermord“ auf. Vielmehr müsse der Slogan „in erster Linie als Ruf nach Freiheit und Gleichberechtigung verstanden werden und nicht als Ausruf zu Gewalt und Zerstörung, sofern nicht zwingende zusätzliche Anhaltspunkte das Gegenteil nahelegen würden“.

Diese Interpretation bezieht sich auf eine innerhalb der Linken hart umkämpfte Frage: Ist Israel ein siedlerkoloniales Projekt oder nicht? Gemeinhin „antideutsch“ genannte Linke verneinen das vehement und verteidigen Israel als Schutzraum für alle Jüdinnen und Juden und seine Politiken. Teilweise wird die Position vertreten, Israel sei seinerseits das Ergebnis eines nationalen Befreiungskampfes gegen die britischen Kolonialherren. Die Besatzung des Westjordanlands ist in dieser Lesart ein Akt der Selbstverteidigung, genauso wie die aktuelle Bombardierung Gazas. Aus einer universalistischen linken Perspektive hingegen ist Israel die koloniale Antwort auf den europäischen Antisemitismus. Mit der Nakba ist die Entstehung Israels das Produkt ethnischer Säuberung. Die jahrzehntelange Besatzung des Westjordanlands, die andauernde Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung durch israelische Siedler:innen mit Unterstützung der IDF, die Blockade Gazas seit 2003, die erklärten Bestrebungen von Teilen der israelischen Regierung, Gaza nach dem Krieg zu entvölkern, sind eine Fortsetzung dieses Prozesses. Ein freies Leben „from the river to the sea“ ist so gesehen nur mit einem Ende dieser Politik möglich.

Nachdem die Kriminalisierung der Parole als solche vorher gescheitert war, griff das Bundesinnenministerium zu anderen Mitteln, indem es in seinen Verbotsverfügungen vom 02.11.2023 gegen Hamas und Samidoun die Parole als Kennzeichen beider Organisationen definiert. Ein Verbot von Samidoun, der in Kanada gegründeten linken Hilfsorganisation für palästinensische Gefangene, wurde schon vor dem 07.10.2023 wiederholt gefordert. Samidoun wird vor allem angekreidet, dass auf ihrem Instagramkanal am Morgen des 07.10.2023 Videos gezeigt wurden, in denen der Angriff der Hamas und anderer Organisationen auf Israel mit dem Verteilen von Baklava gefeiert wird. Dies wird weithin als Verherrlichung des Terrors gegen die israelische Zivilbevölkerung gesehen, der mit dem Angriff einherging. Verteidiger*innen von Samidoun betonen, dass die Feier nicht den Morden an Israelis galt, sondern einem „erfolgreichen Aufstand gegen die Vertreibung der Palästinenser“.

Wie dem auch sei, die Parole wird nunmehr als strafbare Verwendung von Kennzeichen verbotener Organisationen verfolgt. Eine Konsequenz daraus ist, dass – ähnlich wie bei anderen niedrigschwelligen Anlässen wie Vermummung – die Polizei bei Demonstrationen nun aufgrund des Legalitätsprinzips zum Einschreiten gegen die vermeintlichen Straftäter:innen verpflichtet ist. Ihre Angriffe auf Demonstrationen führen zu den klassischen Folgestraftaten (Widerstand etc.), die einen großen Teil der „antisemitischen“ Straftaten auf linken propalästinensischen Demonstrationen ausmachen.

„Wir arbeiten schon an weiteren Verboten“

Dabei wird es nicht bleiben. „Wir arbeiten schon an weiteren Verboten“, erklärte Innenministerin Nancy Faeser am 09.11.2023 im Bundestag. Am 20.12.2023 führte ein Großaufgebot der Berliner Polizei eine Razzia in zwei linken Treffpunkten und mehreren Privatwohnungen durch. Den Vorwand lieferte ein Flugblatt der feministischen Organisation Zora, worin die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) als „fortschrittlicherer Teil des palästinensischen Widerstands“ bezeichnet wurde. Der Staatsräson entgegen steht aber nicht nur eine politische Avantgarde, auch Forschende und Kulturschaffende, die sich der israelsolidarischen Doktrin verweigern, werden zunehmend ausgegrenzt. In Berlin wurde gerade dem Neuköllner Kulturzentrum Oyoun die finanzielle Förderung gestrichen, weil es der „Jüdischen Stimme“ seine Räume für eine Hoffnungs- und Trauerfeier zur Verfügung gestellt hatte.

Diesen autoritären Bestrebungen zum Trotz wird, wo Unrecht herrscht, immer auch Empörung wachsen. Während die angemeldete Demonstration am 31.12.2023 nicht laufen konnte, nahmen sich knapp 40 Menschen auf der Sonnenallee unangemeldet die Straße und riefen Parolen. Das Ziel, sämtlichen Protest gegen den Krieg zu unterbinden, hat die Polizei nicht erreicht. Den von ihr Verfolgten gebührt unsere Solidarität.