Wir teilen hier das Death in Custody Statement zur Ermordung von Mohamed Idrissi. Der Name und Fall mag auch einigen noch was sagen, da Angehörige und andere Aktivist*innen aktiv für die Aufarbeitung und vor allem Konsequenzen kämpfen, unter dem Namen Justice for Mohamed.
Das original findet ihr hier
Statement der Death in Custody Kampagne zu Aufklärung und Konsequenzen ein Jahr nach der Ermordung von Mohamed Idrissi in Bremen
– Solidarität mit den Angehörigen von Mohamed Idrissi!
Mohamed Idrissi wurde genau vor einem Jahr, am 18. Juni 2020, bei einem Polizeieinsatz in Bremen ermordet. Vor wenigen Tagen wäre er 55 Jahre alt geworden. Als Death in Custody Kampagne solidarisieren wir uns mit seinen Angehörigen, Freund:innen und Nachbar:innen. Die Todesumstände und deren (nicht) Aufarbeitung sind eine zusätzliche Last für die Hinterbliebenen. Dass die Ermordung bis jetzt ohne Konsequenzen bleibt, ist nicht nur ein Versagen der Polizei, der Justiz und der Politik, sondern insbesondere auch eine weitere reale Bedrohung. Denn die vier verantwortlichen Beamt:innen streifen weiterhin seelenruhig durch die Straßen, gewappnet mit oberster Rückendeckung und Schusswaffen. Selbst wenn die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden, scheinen die Beamt:innen keine Konsequenzen befürchten zu müssen.
Auf die persönliche Verantwortung der Täter:innen in Uniform wollen wir später nochmal eingehen. Allerdings dürfen die Aufarbeitung und sich daraus ergebende Konsequenzen sich nicht auf individuelle Verhaltensweisen beschränken.
In der medialen Berichterstattung zeigt sich immer wieder das gleiche Muster, wenn Menschen von der Polizei ermordet werden. Die Situation wird zugespitzt und auf die Darstellung des Polizisten reduziert, der aus „Notwehr“ einen Mann erschießt, welcher sich mit einem Messer auf ihn zubewegt. Die im Raum stehende Frage lautet dann nur: Hatte der Beamte andere Möglichkeiten als die Schusswaffe, um die Situation zu beenden? Die Reduzierung des Geschehens auf diese Frage ist aber aus verschiedenen Gründen problematisch. Sie lenkt ab vom eigentlichen Problem und zementiert eine Täter-Opfer Umkehrung.
Stattdessen muss nach dem gesamten Kontext gefragt werden, der dem tödlichen Gebrauch der Schusswaffe vorausgegangen ist. Bezogen auf den Tod von Mohamed Idrissi stellen wir uns zum Beispiel folgende Fragen:
Wieso wurde für die Überprüfung der Wohnungssicherheit die Polizei gerufen? Wieso hat die Polizei die Situation derart eskalieren lassen? Wieso haben die Beamt:innen nicht auf das Krisen-Interventions-Team des Sozialpsychiatrischen Dienstes gewartet, trotz der klaren Anweisung dies zu tun? Wieso bedrängten und bedrohten Sie Mohamed Idrissi auf dem Parkplatz? Wieso müssen überhaupt alle Streifenpolizist:innen mit Pistolen oder ähnlichen potentiell tödlichen Waffen (dazu gehören auch Taser) gerüstet sein? Wieso gibt es nicht eine gesellschaftlich verankerte, Anlaufstelle für nicht lebensgefährliche Konflikte, die unbewaffnete, sozial empathische, nicht bedrohlich wirkende und geschulte Personen senden? Wieso haben Täter:innen in Uniform einen so hohen Rückhalt bei Justiz und Politik, dass sie sich quasi sicher sein können, nie für ihr Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen zu werden?
Diese und unzählige weitere Fragen müssen beantwortet werden. Dabei allein darf es allerdings nicht bleiben. Es müssen Konsequenzen folgen. Dass dabei auf den Staat kein Verlass ist, zeigt unter anderem auch der bisherige Stand unserer Dokumentation: Uns sind bis jetzt 185 Todesfälle von illegalisierten Menschen, Geflüchteten, Schwarzen und PoC durch die Polizei bzw. in Gewahrsam seit 1990 bekannt. Das sind keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern Todesfälle und Morde, die systematisch herbeigeführt oder zumindest in Kauf genommen werden.
Dass die Wurzel des Übels aber viel tiefer liegt, als nur auf Polizeiebene, zeigte sich einmal mehr Anfang Juni in Bremen an den Reaktionen auf ein paar brennende Polizeiautos. Während es nach der Ermordung von Mohamed Idrissi oder Qosay Sadam Khalaf durch die Polizei keinerlei Anteilnahme von offizieller Seite gab, erhitzen ein paar beschädigte Polizeiautos parteiübergreifend die Gemüter. Ein Sachschaden der Polizei scheint mehr Empathie und Handlungszwang auszulösen, als die Ermordung von Menschen durch die Polizei. Eine solche Politik und Staatsstruktur wird sich niemals freiwillig ändern oder gar auflösen. Sie muss dazu durch einen andauernden, vielfältigen und solidarischen Protest gezwungen werden.
Bei zu vielen Todesfällen gibt es zu wenig Informationen, geschweige denn Angehörige, Freund:innen oder Aktivist:innen, die die Ressourcen und die Kraft haben, dafür zu sorgen, dass der Vorfall und Name nicht in Vergessenheit geraten. Ohne die Arbeit und die Kämpfe solcher Initiativen, wie für Mohamed Idrissi, haben Gerichte und Polizisten leichtes Spiel, ihr Narrativ in der Gesellschaft zu verankern. Doch mit dieser Last dürfen die Hinterbliebenen nicht alleine gelassen werden. Wir müssen uns vernetzen, austauschen und einander unterstützen.
Wir stellen uns an die Seite der Angehörigen, die in der Initiative „Justice for Mohamed“ unermüdlich um Gerechtigkeit kämpfen und fordern gemeinsam mit ihnen Aufklärung und Konsequenzen.
Drängen wir den Staat dazu, die Forderung „Defund the Police“ praktisch umzusetzen. Lasst uns im Alltag und im eigenem Umfeld nicht reflexhaft abhängig von Polizist:innen machen, wenn wir in Konfliktsituationen geraten. Die Polizei bleibt für viele Menschen eine reale Gefahr, auch im öffentlichen Raum. Lasst die Betroffenen, welche rassistischen Kontrollen oder anderen Schikanen ausgesetzt sind, nicht alleine. Polizeieinsätze müssen kritisch beobachtet werden und solidarische Interventionen im Alltag mit eingebaut werden. Es gibt viele Wege, gegen Polizeigewalt aktiv zu werden. Lassen wir uns nicht spalten, sondern gehen wir aufeinander zu.
Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, wie die Ermittlungen zum Tod von Mohamed Idrissi ausgehen werden, doch hat die Politik schon zu oft bewiesen, dass sie Mörder:innen deckt und schützt. Dass die Probleme vor allem auf struktureller Ebene liegen, entbindet einzelne Polizist:innen nicht von der Verantwortung für ihr Handeln. Sie sind keine unschuldigen Rädchen im System. Das gilt auch für die vier Beamt:innen, welche für die Ermordung von Mohamed Idrissi verantwortlich sind. Auf dem Video nach der Schussabgabe, sehen wir, wie sie Mohamed Handschellen anlegen, nachdem er bereits von mehreren Schüssen in die Brust getroffen wurde, und ihn verbluten lassen. Unabhängig vom Ausgang des Ermittlungsverfahrens muss dieses Verhalten als das benannt werden, worum es sich aus unserer Sicht handelt: Mohamed Idrissi, das war Mord! Um solche Morde künftig zu verhindern, muss das ganze mörderische System, das dahinter steht, angeprangert und abgeschafft werden.