Neukölln-Komplex: Antifaschistischer Selbstschutz statt sabotierte Ermittlungen

Veröffentlich am 17.08.2020

Über siebzig, teils schwere Straftaten zählt die faschistische Anschlagsserie in Berlin-Neukölln und noch immer laufen die Hauptverdächtigen frei herum. Es sei ihnen gerichtsfest nichts nachzuweisen, so die Staatsanwaltschaft. Wie auch, wenn die Ermittlungen von Behörden geführt werden, die mit Informanten der Naziszene so durchsetzt sind wie die Naziszene ihrerseits mit Informanten von Polizei und Verfassungsschutz. Die Berichte über angebliche Ermittlungspannen im Neukölln-Komplex sind inzwischen so zahlreich, dass kein ernsthafter Beobachter mehr an eine Verkettung von unglücklichen Umständen glauben kann.

Vor diesem Hintergrund fand in der vergangenen Woche ein Prozess gegen zwei Antifaschisten statt. Laut Anklage sollen sie im Februar 2017 Plakate verbreitet haben, auf denen vor den hauptverdächtigen Nazis gewarnt wurde. Wenn es gegen links geht, stimmt die Motivation. Dann zieht die Staatsanwaltschaft alle Register, bittet wenn nötig die Nazis sogar noch ausdrücklich um entsprechende Anzeigen und erhebt zuversichtlich Anklage. Doch diesmal hat die Masche nicht gezogen, die Antifaschisten wurden vom Amtsgericht Tiergarten freigesprochen (taz-Bericht).

Lest hier die Prozesserklärung der beiden Angeklagten zum Neukölln-Komplex:

19.03.2016 – Ein Parteibüro der SPD im Reuterkiez wird mit „Volksverräter“ und einem Galgen besprüht

15.05.2016 – Brandanschlag auf den Wagenplatz „Kanal“ am Baumschulenweg

08.07.2016 – Brandanschlag auf ein Auto mit Falken und Anti-AfD-Aufklebern im Schillerkiez

15.10.2016 – Brandanschlag auf das Auto der Geschäftsführerin des Anton-Schmaus-Haus (Falken) in Rudow

12.12.2016 – 2 Steinwürfe auf Fenster, 1 Brandanschlag auf ein Wohnhaus, 2 Farbflaschenwürfe auf eine Wohnung, 1 Sachbeschädigung an einer Kirche

14.01.2017 – Brandanschlag auf das Auto der Falken

23.01.2017 – 2 Brandanschläge auf Autos (u.a. Falken)

08.02.2017 – 6 persönliche Bedrohungen an Wohnhäuser gesprüht

03.05.2017 – Brandanschlag auf ein Auto der Falken

06.11.2017 – 16 Stolpersteine gestohlen und 4 beschädigt

01.02.2018 – Brandanschlag auf ein Auto von einem Mitglied der Linkspartei und auf das Auto des Inhabers des Buchladens Leporello

05.05.2018 – Eine persönliche Bedrohnung an ein Wohnhaus gesprüht

28.08.2018 – Brandanschlag auf das Auto des Inhabers des Buchladens Leporello

16.03.2019 – 4 persönliche Bedrohungen an Wohnhäuser gesprüht

Herbst 2019 – Hakenkreuze werden an die Konditorei Damaskus in der Sonnenallee gesprüht

03.11.2019 -Der linke Kiezladen „Heart’s Fear“ wird mit Flaschen entglast

10.12.2019 – In der Wildenbruchstraße werden Hakenkreuze gesprüht und von einzelnen Autos die Reifen zerstochen

24.04.2020 – Im Tempelhofer Weg werden 2 Autos mit Hakenkreuzen und Bedrohungen besprüht

30.04.2020 – Faschisten verteilen großräumig in Britz und Buckow Flyer von der Neo-Nazistischen Partei „Dritter Weg“

10.05.2020 – In der Laubestraße werden an ein Haus SS-Runen gespüht und vor dem Haus 4 Autos angezündet

05.06.2020 – In der Wildenbruchstraße werden Läden und ein Wohnhaus mit Nazisymbolen und persönlichen Bedrohnungen besprüht

19.06.2020 – Die Konditorei Damaskus in der Sonnenallee wird zum 7. mal mit Nazisymbolen besprüht und ein davor parkender Transporter angezündet

Dies sind lediglich 22 von über 70 Anschlägen, die von Faschisten seit 2016 in Neukölln verübt wurden. Wir möchten in diesem Zusammenhang auch an Burak Bektaş und Luke Holland erinnern. Sie wurden 2012 und 2015 von Rechten ermordet. Es ist wohl eher glücklichen Umständen als der Logik der Täterinnen geschuldet, dass bei der, bis jetzt anhaltenden, Anschlagsserie noch keine Menschen zu Tode gekommen sind, denn ein zentrales Element des Faschismus bleibt die Vernichtung seiner Widersacherinnen. Für das bewusste Inkaufnehmen beziehungsweise das Einkalkulieren, bei den Anschlägen Menschen zu ermorden, sprechen nicht zuletzt die Angriffe mit Brandsätzen gegen bewohnte Häuser und einen Wagenplatz.

Doch nicht nur die militant agierenden Faschisten sind eine Bedrohung, auch Teile der hiesigen Justiz, des Polizeiapparates und der sogenannten Streitkräfte sind durchsetzt mit Personen mit rassistischem und / oder faschistischem Weltbild. Bundesweit ist dies anhand vieler Vorfälle belegbar. Das Versenden von Drohbriefen mit dem Signum „NSU 2.0“ durch Polizist*innen, die rassistischen Morde an Oury Jalloh in Dessau oder Hussam Fadl in Berlin, ebenfalls durch Polizisten, tägliches hundertfaches Racial Profiling , die sogenannten Netzwerke „Uniter“ und „Hannibal“ bei der Bundeswehr und dem KSK, der fehlende Aufklärungswille im NSU-Komplex sind nur eine handvoll der, in diesem Kontext zu benennenden, Komplexe. Hier kann schon lange nicht mehr von Einzelfällen gesprochen werden. Vielmehr ist sichtbar, dass all diese Strukturen und Behörden ein Einfallstor für Faschisten waren und sind. Ebenso muss von einem institutionellen Rassismus gesprochen werden.

Dies ist auch in der Berliner Justiz und Polizei erkennbar. Alleine in den letzten Jahren gab es eine Vielzahl an Skandalen.

Nehmen wir bspw. die Drohbriefe an vermeintliche und tatsächliche Linke Aktivistinnen, die am 22.12.2017 an verschiedene linke Projekte geschickt wurden. In diesen wurde damit gedroht, persönliche Daten wie Namen, Adressen, Vorerkrankungen, Lichtbilder, Namen von Familienmitgliedern und weitere Informationen, an organisierte Faschisten weiterzugeben. Alles von zumindest einem Polizeikommissar, Sebastian K., diskret aus dem polizeiinternen Datensystem Poliks abgeschnorchelt und ergänzt durch Informationen, die das LKA zuzätzlich gesammelt und konstruiert hat. Bei einer Wohnungsdurchsuchung bei dem oben genannten (ehemaligen) Polizeikommissar wurde eine Powerpont-Präsentation gefunden, die weitere Daten zu linken Aktivistinnen unter dem Titel „Nervensägen“ und mit dem Hinweis darauf, man solle sich „nicht erwischen lassen“, enthielt.

Oder schauen wir uns den aktuellen Fall von einem weiteren LKA-Beamten an: Stefan K. soll eigentlich die rechte Szene überwachen, steht zur Zeit jedoch vor Gericht, weil er im Jahr 2017 an einer schweren Körperverletzung mit rassistischem Hintergrund beteiligt war. Zeuginnen sagten aus, dass bei dem Angriff „Scheiß Ausländer“ und „Verpiss dich aus Deutschland, was willst du hier überhaupt“ gerufen wurde. Ein rassistischer und höchst gewalttätiger LKA-Mitarbeiter soll also andere gewaltbereite Rassistinnen überwachen.

Ein weiterer „Einzelfall“ im März 2018 war das private Treffen zwischen dem LKA-Beamten Pit W. und dem Neo-Nazi Sebastian Thom in einer Fußballkneipe, die auch als einschlägiger Treffpunkt der Neuköllner Neo-Nazi-Szene zählt. Nach einem Gespräch stiegen beide in das private Auto von W. und fuhren von der Kneipe weg. Nur 6 Wochen zuvor wurde ganz in der Nähe das Auto eines Politikers der Partei „die Linke“ abgefackelt. Dieses stand in einem Holz-Carport direkt neben seinem Haus. Thom gilt auch hier als Hauptverdächtiger.

Am 05.08. 2020 wurde bekannt, dass der Chef der Staatsschutzabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, Matthias Fenner, seinen Posten räumen musste. Grund hierfür ist ein Chatprotokoll zwischen den Neo-Nazis Tilo Paulenz und einem weiteren Hauptverdächtigen im Neukölln-Komplex. In diesem berichtete Paulenz, dass ihm der Staatsanwalt in einem Verhör erklärt habe, dass er sich keine Sorgen machen brauche, er sei selbst AfD-Wähler. Der Staatsanwalt Storm wurde ebenfalls versetzt, da er Kenntnis von diesem Protokoll hatte, jedoch nicht gegen seinen Chef vorging.

Sebastian Thom und Tilo Paulenz sind hierbei keine Unbekannten. Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass sie als führende Köpfe einer Personengruppe für mindestens einen Teil der Anschlagsserie in Neukölln verantwortlich sind. Wir persönlich möchten hier nicht an die Justiz oder die Polizei appellieren. Nicht nur, dass auf diese Institutionen kein Verlass ist, vielmehr sind sie, wie bereits beschrieben, durchsetzt von Personen, die ein rassistisches und faschistisches Weltbild inne haben. Sie stellen damit ebenso eine unmittelbare Gefahr für People of Color, Geflüchtete, Trans-Personen, linke Menschen und viele mehr dar.

Wer also immer noch daran festhält dass es sich um Ausrutscher, Pannen und Einzelfälle, handeln würde, verkennt nicht nur den lebensbedrohlichen Ernst der Lage, sondern schenkt auch den Betroffenen weder Gehör noch Emphatie. Denn es sind eben jene die seit Jahren um Gehör und insbesondere Aufklärung kämpfen. Einige von ihnen sitzen heute als Zuschauer*innen hier im Saal.

Es bleibt demnach nur ein antifaschistischer Selbstschutz. Wie dieser schlußendlich aussieht, muss stetig neu diskutiert und an die bestehenden Verhältnisse angepasst werden. Fakt ist, dass er sich nicht an bürgerlichen Annahmen von Gesetz und Recht orientieren sollte, sondern an einer Vorstellung davon, wie wir uns eine Welt ohne Rassismus, Faschismus und Konkurrenzgedanken vorstellen.

Also kommt zusammen, vernetzt euch, organisiert euch – lasst euch nicht von Faschist*innen oder staatlichen Institutionen isolieren.

United we stand, divided we fall!