Warum Polizeigewalt kein Einzelfall ist und ihre Bekämpfung kein Trend sein darf

Veröffentlich am 21.07.2020

Am 18.06.2020 starben zwei Menschen durch Polizeigewalt, in Bremen sowie in Twist, einem Ort in Niedersachsen. Beide Fälle, so unterschiedlich sie sein mögen, machen doch sehr deutlich, dass das Problem nicht einzelne Polizist*innen vor Ort sind, sondern ein systematisches ist.

Die liberale Antwort auf Polizeigewalt ist in den meisten Fällen beschränkt auf Kritik an dem Verhalten von Polizist*innen. Wären die Beamt*innen doch nur ruhiger gewesen, nicht eskalierend, vielleicht auch nicht rassistisch oder hätten sie doch zumindest auf die Beine gezielt1. Diese Kritik bleibt zu oberflächlich.

In Bremen starb der 54-jährige Mohamed Idrissi –durch zwei Schüsse in den Oberkörper. Er war zuvor auf einen Polizisten mit einem Messer zu gerannt2. Es kursiert ein Video von dem Vorfall im Netz, welches zeigt wie die Beamt*innen sich um Distanz bemühen und ihn mehrfach aufforderten sein Messer wegzulegen. In Twist wurde ein 23-jähriger, der zuvor Menschen mit einem Messer bedroht haben soll, von der Polizei in den Oberschenkel geschossen und ist an den Folgen gestorben3. In beiden Fällen waren es Schwarze Menschen.

Werden die Situationen in Bremen und Twist unter die Lupe genommen, so wird deutlich, dass sich die Kritik nicht auf das individuelle Verhalten einzelner Beamte*innen beschränken darf. Denn anders als in anderen bekannten Fällen von tödlicher Polizeigewalt scheinen sich die Beamt*innen hier um Deeskalation zumindest bemüht zu haben. Sie haben in Twist auf die Beine gezielt und sich in Bremen um Abstand bemüht.

Selbst wenn kein Polizist ein böswilliger, rassistischer, faschistischer und aggressiver Menschwäre, bleibt die Polizei als System weiterhin tödlich. Sie ist durch ihre Rolle und Bewaffnung eine klare, teils lebensgefährliche Bedrohung für viele Teile der Bevölkerung. Denn deeskalierendes Verhalten der Polizei heißt Abstand gewinnen mit gezückter Waffe. Können so angespannte Situationen wirksam entschärft werden?

Mohamed Idrissis Wohnung wurde durch die Hausverwaltung in Polizeibegleitung besichtigt und er wurde anschließend aufgefordert zur Wache mitzukommen für eine Untersuchung durch den Sozialpsychiatrischen Dienst. Was das Video nicht zeigt: Sein Betreuer wurde nicht einbezogen, auch keiner der Anwohner, die ihn kannten und die der Polizei angeboten hatten, mit ihm zu sprechen, um die Situation zu deeskalieren4. Die Polizei zeigte sich unfähig, die Klärung dieser Lage kompetenten Zivilisten zu überlassen. Dies wäre eine naheliegende und vernünftige Lösung gewesen – in den Augen der Polizei jedoch ein inakzeptabler, ihre Autorität gefährdender Rückzug. Dieses Muster lässt sich in zahlreichen Fällen beobachten, so auch im Fall von Maria, welche im Januar in Berlin von Polizisten erschossen wurde5. Der unbedingte Wille, sich durchzusetzen, gepaart mit einem Arsenal an Waffen macht die Polizei so gefährlich. Auch wenn – wie in Twist – auf die Beine geschossen wird, ist dies lebensbedrohlich. Jeder Einsatz hat das Potential, tödlich zu enden. Polizist*innen sind keine Mediator*innen, keine Therapeut*innen, keine Sozialarbeiter*innen oder ähnliches, sondern verkörpern das Gewaltmonopol des Staates. Sie schieben ab, führen Zwangsräumungen und rassistische Kontrollen durch, prügeln in Demos rein, sperren Leute ein und sind auch regelmäßig für Todesfälle in den unterschiedlichsten Situation verantwortlich.

Daraus ergeben sich zwei mögliche Betrachtungsweisen. In der erstenwerden diese Fälle tödlicher Polizeigewalt als verhältnismäßig betrachtet und die Opfer werden abfällig als unausweichliche Kollateralschäden bewertet. Denn wie sich die einzelnen Beamten in diesen Rahmen auch verhalten, wird es immer wieder zu solchen Fällen kommen.

Dass hingegen die staatlichen Repressionsbehörden und ihre Befürworter*innen kein ernsthaftes Interesse haben, ihre tödliche Praxis zu überdenken oder gar zu ändern, zeigt sich an ihren Versuchen, eine Täter-Opfer-Umkehrung zu vollziehen. Beispielhaft stehen hierfür vor allem die Polizeigewerkschaften und Bundesinnenminister Horst Seehofer. Das in Berlin eingeführte Landesantidiskriminierungsgesetz (LAGD) soll Menschen vor Diskriminierung durch Polizei, Behörden und Ämtern schützen. So können sich unter anderem Betroffene nun nicht nur mehr bei der Polizei selbst beschweren, sondern auch bei einer Ombudsstelle. Obwohl diese über keine echtenEingriffsrechte verfügt, bezeichneten Polizeigewerkschaften und Seehofer die Einführung als einen Angriff auf die Polizei6. Auch der TAZ-Artikel von Hengameh Yaghoobifarah geriet ins Kreuzfeuer und wurde als menschenverachtend bezeichnet wegen des Vergleichs von Polizist*innen mit Müll7. Die Krawalle in Stuttgart am 20./21.06.2020, für welche Polizeikontrollen der Auslöser waren, wurden sofort ebenfalls genutzt, um die Diskussion über Polizeigewalt umzukehren. Durch die Black Lives Matter Proteste sei der Ruf der Polizei geschädigt worden und würde die Hemmschwelle zur Gewalt gegen diese sinken8. Die Täter sollen mit aller Härte bestraft werden9. So wurden Gefangene in Fußfesseln(!) dem Haftrichter vorgeführt10. Der Besuch von Innenminister Seehofer in Stuttgart war eine makabere Inszenierung, mit beschädigten Polizeiautos als Kulissen11. Die Todesfälle in Bremen und Twist waren ihm keinen Besuch wert.

In der zweiten Betrachtungsweise, wollen wir diese tödliche Gewalt nicht mehr hinnehmen. Wir müssen der Polizei in ihrer jetzigen Form ihre Daseinsberechtigung absprechen und für ihre Abschaffung kämpfen. Polizist*innen sind in ihrer Funktion, Struktur, Selbstverständnis und Ausbildung mehr als ungeeignet, soziale und gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Vor allem, da die Polizei selbst die Bedingungen für diese Situationen mit verantwortet, kreiert und aufrechterhält. Wie Alternativen aussehen können, zeigen Diskussionen, Praktiken und zum Teil auch veränderte Konzepte in den USA, welche durch die massiven und anhaltenden Proteste der Black Lives Matter Bewegung zustande gekommen sind. „Defund the Police“ ist eine klare und auch praktikable Forderung, die sich etablieren konnte. Die Umverteilung öffentlicher Gelder zugunsten anderer sozialer Bereiche ist nur einer von vielen Vorschlägen und Möglichkeiten12.

Der Druck auf die staatlichen Strukturen muss aufrechterhalten werden. Spontane Empörung ist unzureichend. Solidarität darf kein Hashtagtrend sein, an dem sich auch Konzerne für die eigene Imagepflege beteiligen dürfen. Um mit der Kontinuität der systematischen Polizeigewalt zu brechen ist ein beharrlicher, fortführender Kampf mit klaren Forderungen nötig ist. Gruppen wie die KOP, ISD und die Initiative Oury Jalloh arbeiten seit Jahren daran, sowie überhaupt auch den Rassismus und die Polizeigewalt hier sichtbar zu machen. Das leiser Widerstand nicht ausreicht, weiß auch die neue Generation hier in Deutschland13. Neue Gruppen gründen sich, wie z.B die Migrantifa in Berlin. Silence is not the answer. Der Widerstand gegen staatlichen Rassismus muss alltäglich und auf den unterschiedlichsten Wegen und Ebenen geführt werden. Am 08.06. weist die Death in Custody Kampagne in ihrer Pressemitteilung 159 rassistische Todesfälle durch Polizei auf14. Nach dem 18.6., 10 Tage später, sind es mindestens zwei mehr.

Kämpfen wir dafür, dass es nicht mehr werden.

Black Lives Matter
Defund the Police
Gegen Polizeigewalt weltweit

Qullen:
1Wie zum Beispiel der demokratische Kandidat Joe Biden https://nypost.com/2020/06/02/biden-suggests-officers-shoot-in-the-leg-rather-than-to-kill/
2https://taz.de/Polizist-erschiesst-psychisch-Kranken/!5691703/
3https://www.nwzonline.de/region/messerangriff-in-twist-polizist-schiesst-bewaffneten-mann-ins-bein_a_50,8,2911592321.html
4https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138394.polizei-im-ausnahmezustand.html?
5http://www.abc-berlin.net/maria
6https://taz.de/Polizei-kritisiert-neues-Berliner-Gesetz/!5686216
7https://www.rote-hilfe.de/news/bundesvorstand/1068-taz-debatte-frontalangriff-auf-die-pressefreiheit
8https://www.sueddeutsche.de/panorama/stuttgart-randale-1.4942646
9https://www.deutschlandfunk.de/politiker-reaktionen-auf-stuttgart-die-knueppel-aus-dem.720.de.html?dram:article_id=479128
10https://lowerclassmag.com/2020/06/23/stuttgart-insezenierungen-fuer-den-rechten-mob/
11https://www.n-tv.de/politik/Demoliertes-Polizeiauto-rollt-extra-fuer-Seehofer-an-article21865593.htmldrn:news_id=1144262
12https://edition.cnn.com/2020/06/06/us/what-is-defund-police-trnd/index.html
13https://taz.de/Aktivist-ueber-Proteste-gegen-Rassismus/!5687919/
14https://deathincustody.noblogs.org/