Stellungnahme der Roten Hilfe (Ortsgruppe Berlin) zu den Distanzierungserklärungen im Elbchaussee-Prozess
Seit nun über einem Jahr läuft der Prozess gegen fünf Angeklagte im sog. Elbchaussee-Prozess. Drei von ihnen saßen wegen Fluchtgefahr in U-Haft, von denen dann zwei im Februar 2019 aus der Haft entlassen worden.
Grund dafür waren ihre Einlassungen gegenüber dem Gericht, in welchen sie sich von dem in der Elbchaussee Geschehenen distanzierten. Darüber hinaus haben die beiden minderjährigen Angeklagten, die nicht mit in U-Haft saßen, Aussagen im gleichen Tenor gemacht. Loic, der letzte der fünf, hat keine Aussagen gemacht und ist erst am 18. Dezember 2019 von Haft verschont worden. Im Gegensatz zu den anderen Anderen muss er sich zweimal wöchentlich bei der Hamburger Polizei melden.
Wir sind solidarisch mit allen fünf Angeklagten. Das heißt aber nicht, dass wir es nicht explizit gutheißen, vor Gericht und bei den Bullen die Klappe zu halten, auch wenn es zermürbend und kräftezehrend sein kann. Es heißt auch nicht, dass wir die öffentlichen Reueerklärungen, gerade vor Gericht, nicht kritisieren. Öffentliche Distanzierungen von politischen Aktionen sind demoralisierend für die Bewegung und können nicht nur dort weitreichende Folgen haben.
Wir als Ortsgruppe Berlin haben uns seit diesen Entwicklungen im Gerichtsverfahren gewünscht, dass sich bundesweit von Seiten der Roten Hilfe zu den Reueerklärungen positioniert wird und eine solidarische Diskussion dazu begonnen wird. Nach mehrmaligen Versuchen, die Ortsgruppen, die stärker in die Prozessbetreuung involviert sind und dadurch die Situation besser einschätzen können, zu einer Positionierung zu bewegen, sowie dem Einholen weiterer Informationen zu dem konkreten Verfahrensverlauf, sehen wir es als notwendig an, nun selber ein Statement zu verfassen, um unserer Position Ausdruck zu verleihen.
Wenngleich eine Einlassung auf den ersten Blick nur die aussagende Person betrifft, so umfasst sie tatsächlich viel mehr. Durch eine Aussage im Elbchaussee-Prozess wie „Wir haben das so [bezogen auf die Gewalt] nicht gewollt“, wird vor allem der Argumentationslinie der Staatsanwaltschaft und des Gerichts in die Hände gespielt. Diese beinhaltet im hiesigen Verfahren, dass es andere Anwesende sehr wohl so gewollt haben, dass es eine Unterscheidung von „guten“ und „bösen“ Demonstrierenden gibt und dass jede*r weitere Angeklagte, die*der sich dieser Einlassung nicht anschließt, es ja so gewollt haben muss.
Eine solche Aussage ist eine öffentlichkeitswirksame Distanzierung von Handlungen, die nur wegen ihres politischen Charakters von staatlicher Seite so hart verfolgt werden. Und deshalb führen solche Aussagen auch zu einer Entsolidarisierung mit der linken Bewegung.
Auf einer konkreteren Ebene sind sie auch deshalb als Entsolidarisierung zu begreifen, weil sie den Kreis der als Täter*innen infrage kommenden Personen minimiert und deren Verurteilung wahrscheinlicher macht.
Der Elbchaussee-Prozess wird innerhalb und außerhalb der linken Szene mit viel Aufmerksamkeit beobachtet, u.a. weil von der Staatsanwaltschaft die Linie gefahren wird, dass diese Demonstration aufgrund ihrer vermeintlichen gewaltvollen Dynamik nicht durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit geschützt ist und somit alle dort Anwesenden für alle dort vollzogenen Taten mitverantwortlich sein sollen. Dies ist eine Argumentationslinie, wie sie auch bei Fußball-Hooligans angewandt wird. Insbesondere vor dem Hintergrund der Prozesse um die Proteste in der Rondenbargstraße in Hamburg im Rahmen der No-G20 Proteste, sind diese Entwicklungen alarmierend.
Zwar können wir den Grund für die Einlassungen individuell nachvollziehen, allerdings ist eine derartige individualisierte Betrachtungsweise für die gesamte Bewegung schädlich insbesondere für die Genoss*innen welche den langwierigen Gerichtsprozess noch vor sich haben. Wir sollten uns einmal mehr daran erinnern, dass wir eine gemeinsame Strategie gegen die Repressionsorgane benötigen und uns nicht von vermeintlich vorteilhaften Deals für Einzelne spalten lassen dürfen. Zu denken, dass die Bewegung sich Gnade von der Staatsanwaltschaft erhoffen könne, weil ihrer Argumentation gefolgt wird, gibt sich der Illusion hin, dass der Staat etwas gerechter sei, wenn wir nur etwas mehr kooperierten.
Von staatlicher Seite werden solche Deals genutzt, um an Informationen über uns heranzukommen und um uns gegeneinander auszuspielen. Jeder Deal, auf den sich eingelassen wird, ist in diesem Sinne ein erfolgreicher Akt staatlicher Erpressung. Das muss uns klar sein und dagegen müssen wir handeln.
Wir zielen nicht darauf ab, irgendjemanden zu diffamieren. Wie schwierig die Situation im Knast sein kann und wie viel daran hängt, wieder herauszukommen, ist insbesondere denen von uns, die Knastarbeit machen, mehr als bewusst. Keine*r von uns sollte sich dem überlegen fühlen. Nichtsdestotrotz ist das Resultat, dass ein Genosse für fast ein Jahr im Knast zurückgelassen wurde. Individuelle Lösungen sind eben das: Nur Lösungen für einzelne Individuen und nicht für die Bewegung. Wir finden es extrem problematisch wenn über dieses Verhalten innerhalb linker Bewegungen und vor allem in Antirepressionsstrukturen nicht gesprochen und es schweigend hingenommen wird.
Wir sind als Ortsgruppe erstaunt darüber, dass unter fadenscheinigen Gründen versucht wird die Diskussion um die Einlassungen der Genossen abzuschneiden. Eine solidarische(!) Diskussion um die Einlassungen halten wir politisch für unbedingt erforderlich, da diese einen Grundpfeiler der Roten Hilfe berührt. Dabei muss uns klar sein, dass wir uns nicht darauf beschränken können uns die Perspektive von Anwält*innen zu eigen zu machen, mögen sie auch prinzipiell solidarisch sein. Dass die Diskussion um die Einlassungen den angeklagten Genossen schaden könnte, sehen wir als Ortsgruppe Berlin nicht.